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 Kampagnen für 
    die Moral
 
 TEXT: DENISE BAYER, SINA MÖLLER, MIRIAM MÜLLER, LENA STREHLOW
 BILD: 
    PHOTOCASE.DE
 
 
 „Jeder ist schuldig, bis ihm das Gegenteil bewiesen wird.“ Dieser verquere 
    Rechtsgrundsatz scheint momentan für den einst gefeierten „King of Pop“ zu 
    gelten. Das Verfahren gegen Michael Jackson wegen Kindesmissbrauchs hat 
    gerade erst begonnen, doch der größte Teil der Amerikaner sieht ihn bereits 
    verurteilt im Gefängnis. Nur 31 Prozent der Befragten glaubten vor 
    Prozessbeginn an Jacksons Unschuld, so das Ergebnis einer Gallup-Studie. Dem 
    Trend folgend
  boykottieren 
    sowohl in den USA als auch in Deutschland viele Hörfunksender die Songs des 
    Sängers. Stattdessen diskutieren die Medien ihren ersten „trial of the 
    century“, der selbst das  Doppelmordverfahren 
    gegen O. J. Simpson in den Schatten stellt. 
 Jacksons Foto schmückt weltweit die Titelseiten, und selbst die „New York 
    Times“ behandelte den Prozess in ihrem politischen Teil.
    Welche Jury kann in Anbetracht der Berichterstattungsflut, der 
    Mobilisierungsversuche Jacksons auf der einen und der Hetzkampagnen seiner 
    Gegner auf der anderen Seite noch unvoreingenommen urteilen? Steht ein 
    (ehemals) schwarzer, schwerreicher, mutmaßlicher Kinderschänder vor Gericht, 
    ist dies ein komplexer Fall für Political Correctness. Oft 
    hat die Öffentlichkeit nach 
    Political Correctness
    geschrieen und sich damit gegen Witze über Minderheiten, 
    Diskriminierung von Frauen, Rassismus und Gewalt an Kindern gestellt. 
    Anstelle von Objektivität und Unschuldsvermutung zählen im Fall Jackson 
    jedoch Quote und Auflage.
 
 Allerdings entstand 
    Political Correctness 
    in einem ganz anderen Kontext: Im multikulturellen USA der sechziger Jahre 
    bezeichneten sich Mitglieder sozialer Bewegungen ironischerweise als 
    „politisch korrekt“ - oder eben nicht, wenn sie sündigten und bei McDonald's 
    aßen. In den Achtzigern gebrauchten Massenmedien den Begriff als negativ 
    besetzte Fremdbezeichnung für linke, emanzipatorische und antirassistische 
    Gruppen.
 
    Bis 
    1990 entwickelte sich 
    Political Correctness 
    zum diffamierenden Etikett. Erst zu diesem Zeitpunkt wurde der Begriff nach 
    Deutschland exportiert, wo die konservativ dominierte Debatte 
    oberflächlicher blieb. Ein gesellschaftliches Echo wie in den USA blieb aus: 
    Sprachkodizes, Quotenregelungen und positive Diskriminierung sind 
    hierzulande bei weitem nicht so „en vogue“ wie in den USA. 
    Stattdessen verwendeten rechtsextreme Publizisten 
    Political Correctness als Kampfvokabel gegen 
    eine angebliche „historische Korrektheit“ der deutschen Vergangenheit.
 Die Verfilmung des Romans „Der menschliche Makel“, der auch hierzulande 
    monatelang auf den Bestsellerlisten stand, 
    thematisiert eine durchweg übertriebene 
    Political Correctness. Philip 
    Roth, mit dem Pulitzerpreis ausgezeichneter Schriftsteller und Sohn 
    jüdischer Einwanderer aus Osteuropa, ist bekannt für seine satirischen 
    Sittengemälde der amerikanischen Gesellschaft. Sein Buch spielt in der 
    Clinton-Ära, in jener Zeit also, in der man alles Makelhafte des Menschen 
    austilgen wollte. Es gab moralische Verfolgungen vom Impeachment-Verfahren 
    gegen Clinton wegen einer Sex-Affäre mit der Praktikantin Monica Lewinsky 
    bis hin zu den politisch korrekten Verhaltensregeln an den Universitäten. 
    Der Roman spielt im Sommer 1998, „der Sommer eines gewaltigen 
    Frömmigkeitsanfalls“, wie Roth schreibt. Der Sommer, in dem die 
    Präsidentenaffäre die ganze USA empört. Der Roman „Der menschliche Makel“ 
    entlarvt die Political Correctness als Absurdität: Coleman Silk, 
    Alt-Philologe an einer noblen Ostküsten-Universität, wird wegen einer 
    unbedeutenden Äußerung als Rassist gebrandmarkt. Er verliert seinen 
    Lehrstuhl und seine Frau. Ironie des Schicksals: Coleman ist ein sehr 
    hellhäutiger Schwarzer und entschied sich schon in seiner frühen Jugend für 
    ein Leben als Weißer. „Das Phantasma von Reinheit ist abstoßend“, sagt Roth. 
    Ein dicker Fleck ziert deshalb das Buchcover.
  
 
 
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