| Die Gründe liegen auf der Hand, 
    betrachtet man weniger den Stellenwert der Musik für den allgemeinen 
    Ausdruck der Sexualität, als vielmehr seine Ordnungsfunktion. „Sexualität 
    ist nämlich nicht ein bestimmtes Phänomen“, so Simon Frith, „das 
    entweder ausgedrückt oder verdrängt wird; der Begriff umfasst einen weiten 
    Bereich von Lust und Erfahrungen sowie die vielen Möglichkeiten, wie 
    Menschen sich als geschlechtliche Wesen verstehen. Sexuelle Vorstellungen 
    beinhalten sowohl Verbote als auch Möglichkeiten, sowohl Tabus als auch 
    Spielräume.“ Der Rock'n'roll der 1950er Jahre samt seinen 
    Normüberschreitungen, sexuellen Anspielungen und Verheißungen eines anderen 
    Lebensstils stiftete den Jugendlichen also eine eigene Identität. Erstmalig 
    wurde eine Kultur aufgemacht die abseits des Elternhauses oder sonst einer 
    Obrigkeit verortet war und seinen kollektiven Ausdruck im Kreischen fand. 
    „Ein Urlaut der Popkultur ist das Kreischen“, schrieb der 
    Pop-Theoretiker Tom Holert. Dieser wurde hervorgerufen durch die 
    sexuell-anrüchig kreisenden Hüften eines Elvis Presley, den 
    verheißungsvollen, eindeutigen Gesten von Little Richard, oder, etwas 
    später, dem charmanten, nahezu jungfräulichen Pilzköpfe-Schütteln der 
    Beatles.
 I Can’t Get No Satisfaction
 
 Die Jugendkultur der 1960er Jahre war in sexueller Hinsicht weitaus 
    rebellischer. Die Angriffe gegen das System im letzten Drittel des 
    Jahrzehnts richteten sich auch gegen die Institution der Familie, denn 
    Sexualität wurde erstmalig mit Nachdruck von der Ehe getrennt. „Es 
    entwickelte sich eine Generation von jungen Weißen mit einer neuen, weniger 
    repressiven Einstellung zu Sexualität und zur Lust“, schrieb Tom Hayden, 
    einer der Chefideologen der amerikanischen Studentenbewegung der 1960er 
    Jahre, „und das Mittel zu ihrer Befreiung war die Musik“. Die 
    Beatmusik war die große Erlösung nach den vielen tröstlichen Balladen. 
    Deswegen waren Bands wie die Rolling Stones, mit ihrer anti-romantischen 
    Haltung und der Betonung der dunklen Aspekte der Lust, auch derart 
    anziehend. Spontaneität, Ausdrucksfreiheit, Unmittelbarkeit der Gefühle 
    waren Mittelpunkt des adoleszenten Verlangens und kulminierten schließlich 
    in der Hippie-Kultur.
 
 Doch was in der Theorie verführerisch klang, stand in der Praxis einem eher 
    ambivalenten Gefühl entgegen. „Glauben wir nicht, das man zur Macht Nein 
    sagt, wenn man zum Sex Ja sagt“, hinterfragt Michel Foucault Mitte der 
    1970er Jahre rhetorisch die Verhältnisse. Tatsächlich blieb die 
    Rollenverteilung weiterhin eine chauvinistische: Männer waren die sexuellen 
    Konsumenten, Frauen die sexuelle Ware. Künstlerisch fand das insbesondere in 
    der musikalischen Spielart des „Cock Rock“ seinen Ausdruck. Dessen 
    Protagonisten, gestandene Männer, trugen als Bühnen-Outfit tief 
    ausgeschnittene Hemden und enge Hosen, die Brustbehaarung und Genitalien 
    betonten. Ihre Instrumente wurden als Phallus-Symbole getragen oder wie 
    Frauen liebkost. Die Musik selbst bediente sich als Stilfigur der Lautstärke 
    und funktionierte nach dem Prinzip der Erregung und Befreiung. Animalität, 
    Oberflächlichkeit und Unverbindlichkeit bildeten das Zentrum dieses Genres. 
    Diese „Zelebrierung der Penis-Power“, wie Simon Frith es nannte, 
    stand in krassem Gegensatz zu der von den Mädchen der damaligen Zeit 
    bevorzugten Musik und deren implizierten Sehnsüchten nach Ernsthaftigkeit, 
    Diffusität und gefühlsmäßiger Bindung. Erst im Punkrock sollte diese 
    Dualität in der Auffassung von Sexualität langsam gebrochen werden.
    Noch Ende der 1970er Jahre schrieb der amerikanische Musikkritiker 
    Lester Bangs über Debbie Harry, die Sängerin der New Yorker Band Blondie: 
    „Ich glaube, wenn die Jungs in Amerika irgendwie die Gelegenheit hätten, mit 
    ihrem begehrtesten ‚poster girl’ ins Bett zu gehen und einen Nachmittag lang 
    total über diesen legendären Körper verfügen zu dürfen, würden sich 
    mindestens 75 Prozent aller Jungen im Lande dafür entscheiden, ihn zu 
    verprügeln.“
 
 The Year Of Punk To Come
 
 Punk war die direkte Reaktion auf die Rockmusik der 1970er Jahre, nebst 
    seinen messbar guten Instrumentalisten, dieser kalten Technik eines echten, 
    aufrichtigen Handwerks ohne Charme und Mythos. Und auch in seinem sexuellen 
    Verständnis war Punk als Gegenkultur zu verstehen. Nicht nur, weil es die 
    erste Form einer Jugendkultur war, die nicht auf Liebesliedern beruhte. Die 
    Punks lehnten jegliche romantische oder permissive Vorstellung von 
    geschlechtlicher Betätigung ab, und wandten sich auch dagegen Sexualität zu 
    einer Ware zu machen. Im Punk-Sex war dies alles verschwunden. Es war ein 
    wunderbarer Moment nochmals von vorne zu beginnen. So fabulierte Johnny 
    Rotten von den Sex Pistols, dass Sex nicht mehr als dreißig Sekunden 
    schmatzende Geräusche sei.
 
 Binnen kurzem stellte sich heraus, dass auch Punk nur eine ge-/erfundene 
    Einnahmequelle der Industrie war und eine Marketingzielgruppe bediente. Die 
    in den 1950er Jahren entworfene Idee von der Jugendkultur als 
    Abgrenzungsstrategie wurde ad absurdum geführt. An dieser Stelle setzt 
    Diedrich Diederichsens Buch „Sexbeat“ an. Dass tatsächlich ‚Sex’ für 
    den Poptheoretiker überhaupt erst der Auslöser war, diese Publikation zu 
    verfassen und diese eben auch nach dem Song der Band Gun Club zu benennen, 
    lässt einmal mehr die tiefe Verbundenheit zwischen Sexualität und Musik 
    erahnen. Der Sex schien damals, Anfang der 1980er Jahre, dieses 
    Unvergleichliche, Besondere, das sich nicht in die Symbolhaftigkeit des Pop 
    eingliedern wollte. Es war das letzte wahrhafte Zeichen einer bestehenden 
    Authentizität, deren Verlust man nun zu verstehen begann. „Dieses Reale, 
    das Pop verfehlt hatte, war es nicht der Beat des Sex?“, fragt Diedrich 
    Diederichsen im Vorwort der Neuauflage und weiß bald die ernüchternde 
    Antwort: „Nichts ist uneigentlicher als Sex, nur die Hardware, auf der 
    das Programm läuft, der Körper und die Schichten des Psychischen und des 
    Unbewussten, die die Verbindung halten, sind schwer zu hacken.“ Doch Sex 
    war im Grunde längst entmystifiziert, ein weiteres Alltagsereignis nun, und 
    in die Reihe zurückgerückt, in der Drogen und Musik bereits ungeduldig 
    warteten. Wachsende Mobilität und Unabhängigkeit der Jugendlichen, sowie die 
    Einführung der Pille machten Sex zu einem weiteren Teil der 
    Freizeitgestaltung.
 
 Slave To The Rhythm
 
 Außerdem drängt sich der Verdacht auf, wonach Sex das verbindende Glied 
    zwischen sämtlichen stilistischen Varianten der Popmusik darstellt. Nicht 
    nur in Plattitüden wie dem Ausspruch „Sex Sells“ oder der heutigen 
    MTVIVA-Kompatibilität einer Reduzierung auf Busen/Ärsche in Musikvideos, 
    kennt der  Diskurs über Sex nicht viele Unterscheidungen und wird in allen 
    Szenen ähnlich oder unabhängig, abseits von den dort herrschenden Regeln 
    geführt. Jedenfalls ist er überall präsent. Sexualität ist, wie oben bereits 
    erläutert, eben kein bestimmtes Phänomen, das entweder ausgedrückt oder 
    verdrängt wird. Der Begriff umfasst einen weiten Bereich von Lust und 
    Erfahrungen sowie die vielen Möglichkeiten, wie Menschen sich als 
    geschlechtliche Wesen verstehen. Erst durch die Vergewisserung dieses 
    Sachverhaltes wird deutlich, weshalb sich Sex (auch in der Popmusik) so gut 
    verkauft.
 
 „Der Leib ist der eigentliche Adressat der Kulturindustrien, nicht der Geist 
    oder das Bewusstsein“, schreibt die 
    Soziologin Gabriele Klein folgerichtig. Der Körper steht im Mittelpunkt des 
    Interesses, wird präsentiert und bewegt, berührt und entstellt, be- und 
    entkleidet. Die Verehrung des Körpers als das Erhabene hat die Anbetung 
    eines Gottes als Botschaft des Musizierens abgelöst. War einst die Kirche 
    der Ort an dem Musik aufgeführt wurde, ist es heute die Diskothek oder der 
    Konzertsaal. War der Allvater ehemals Ansprechpartner der meisten 
    musikalischen Werke, ist es heutzutage der Menschenleib. Dennoch standen die 
    Chancen binnen der letzten ein, zwei Dekaden nicht schlecht, dass die 
    Maschine den Körper als Empfänger ablöst. Durch technischen Fortschritt und 
    der Entdeckung digitaler Möglichkeiten des Musizierens hat der Körper 
    zumindest aufseiten des Produzenten in den letzten Jahren an Aufmerksamkeit 
    eingebüßt. „Wir sprechen nur noch von Vielheiten, Linien, Schichten, 
    Segmentierungen, Fluchtlinien und Intensitäten, maschinellen Verkettungen 
    und ihren verschiedenen Typen, organlosen Körpern und ihrer Konstruktion und 
    Selektion, über den Konsistenzplan und die jeweiligen Maßeinheiten“, 
    beschreiben die Philosophen Gilles Deleuze und Felix Guáttari Ende der 
    1970er Jahre diesen Verlust. Die elektronische Musik hat als ihren 
    Protagonisten einen Wissenschaftler auf die Bühnen gestellt, der Knöpfchen 
    dreht und vereinzelte Tasten seines Notebooks betätigt und ansonsten wenig 
    Bewegung zulässt. Doch auch wenn die Laptop-Performance noch einen 
    ausgeprägten Bestandteil der elektronischen Musik darstellt, kann seit 
    geraumer Zeit der Versuch beobachtet werden, diese Statik bei der 
    Präsentation der am Computer vorgenommenen Kompositionen aufzubrechen. So 
    haben Künstler wie T.Raumschmiere und Apparat in den letzten Monaten ihre 
    Klangerzeugnisse mittels eines Live-Instrumentariums auf die Bühne gebracht. 
    Der Kölner Elektroniker Ekkehard Ehlers ließ im letzten Jahr sein abstraktes 
    Werk „Politik braucht keinen Feind“ von dem Choreographen Christoph 
     Winkler als Tanzstück in der Berliner Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz 
    umsetzen. Und Jason Forrest/Donna Summer, heimlicher Vorreiter einer 
    aufblühenden Breakcore-Szene, bleibt zwar bei seinen Auftritten weiterhin 
    dem Notebook verpflichtet, inszeniert seine Performance allerdings als 
    ekstatisches Rock’n’Roll-Entertainment. Der Körper wird auch in den 
    elektronischen Varianten der Popmusik zurückerobert und seine einzigartige 
    Bedeutung manifestieren. Nicht zuletzt trägt das wohl erfolgreichste Genre 
    der letzten zwanzig Jahre, der HipHop, seine Botschaft nebst Empfänger 
    bereits im Namen.
 
 Like A Virgin
 
 Gerade der HipHop hat auch die offensichtlichste Naht von Sexualität und 
    Musik auf eine neue Ebene gestellt: das Besingen verbuhlter Intentionen. 
    Nach Mick Jaggers „I can’t get no satisfaction“ und James Browns „Sexmachine“ 
    blieb eine Rebellion diesbezüglich aus. Doch die Rap-Musik der 1980er Jahre 
    brach die letzten Tabus und zelebrierte die mannstollen Begierden des 
    Machismo. Dies erleichterte auch Musikern abseits des HipHop das offenere 
    Sprechen über sexuelle Vorlieben und Begierden, und Künstler wie Madonna 
    brachten diese Praktiken dann zu einem Massenpublikum. Heutzutage ist das 
    Besingen sexueller Anzüglichkeiten aus der Popmusik nicht mehr wegzudenken; 
    ob nun Underground-Acts wie Arab Strap oder Peaches, oder die Größen der 
    Showbranche von Missy Elliott bis Britney Spears.
 
 Eine besondere Form der Einarbeitung von Sex in die Musik konnte man vor 
    zwei Jahren auf dem Regensburger Elektronik-Label Hymen nachhören. Der 
    Engländer Venetian Snares hat dort zusammen mit seiner Freundin Hecate unter 
    dem Projektnamen Nymphomatriarch ein Album veröffentlicht, welches 
    ausschließlich durch die Selbst-Aufnahme verschiedener sexueller 
    Spieltechniken und Praktiken entstand. „Der Arsch-Slap wird zur Snare“, 
    beschreibt der Berliner Musikkritiker Jens Pacholsky die Musik, „der Bass 
    grummelt zur Kontraktion der Muskeln.“ Das Label selbst, welches sich 
    übrigens Hymen nannte, um die Besonderheit, die Einzigartigkeit des ersten 
    Males in Zusammenhang mit der hier veröffentlichten Musik zu bringen, 
    verziert die Vinylversionen ihrer Veröffentlichungen mit 
    exemplarischen Briefmarken, „weil sie einfach so schön zu lecken sind.“
 
 Lovertits
 
 Dennoch funktioniert Sexualität in der Musik erst in zweiter Ebene über den 
    Text. „Kümmerst du dich etwa bei Popmusik einen Dreck darum, was dir 
    darin erzählt wird?“, fragt der Musiker Steve Reich spöttisch. „Wenn 
    dich die Musik trifft, ja, dann fragst du vielleicht nach. Dann wird es 
    spannend. Dann beginnt die Sache zu wachsen. Die Quelle zum Menschen ist 
    immer das Gefühl.“ Zuerst muss dich also die Musik erreichen, bevor du 
    dich dem Sekundären widmen kannst. Dass bereits darin, in den kleinen Tönen 
    und großen Melodien, Sexualität liegt, das ist das große Geheimnis der 
    Popmusik, das Rätselhafte dem wir (Rezipienten, Kritiker, Produzierende) 
    anheim gefallen sind. Der Kölner Schriftsteller Rolf Dieter Brinkmann 
    formulierte Ende der 1960er Jahre den wunderbaren Satz: „Es ist 
    tatsächlich nicht einzusehen, warum nicht ein Gedanke die Attraktivität von 
    Titten einer 19jährigen haben sollte.“ Ich würde auf die Musik angewandt 
    noch heute feststellen, dass es nicht einzusehen sei, weshalb nicht ein 
    Sound, eine Tonfolge oder ein Beat diese benannte Attraktivität haben 
    sollte, ja haben muss, um in der Überzahl an Angeboten überhaupt die 
    Aufmerksamkeit des Musikliebhabers zu erlangen. Perfektion und Können muss 
    nicht unbedingt ausschlaggebend sein, damit ein Stückchen Musik das 
    Interesse des Rezipienten erhält. Alles was ich möchte, ist mehr Sex und 
    nicht die traumhaft sicheren philharmonischen Streicher, virtuosen 
    Saxophonisten oder technisch-filigranen Gitarristen. Die Popmusik lebt 
    „nicht im Konzertsaal, sondern im mickrigen Zimmer jedes einzelnen“, wie 
    Frank Zappa einst feststellte. „Er nimmt sich die Platten mit heim, und 
    Pop gibt ihm eine ‚pleasure experience’. Es ist wie mit lieb gewonnenen 
    Praktiken beim Geschlechtsverkehr, auch da macht man immer wieder, was einem 
    besonders Spaß macht. Genauso lebt Pop aus der Wiederholung. Er schafft beim 
    Hören bestenfalls einen Zustand, wo du nicht wirklich hinhören musst, 
    sondern wo du fühlst, dass etwas passiert.“
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